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Die wahren Betroffenen

Ein Kommentar von Schrödinger.

Geht es Ihnen auch so? Seit Monaten – nein: seit genau einem Jahr – sind alle Zeitungen voll mit NSA und Edward Snowden. Aber eigentlich betrifft Sie das doch alles gar nicht. Wenden wir uns lieber der wahren Betroffenen zu: Angela Merkel.

Denn seit Mittwoch ist es amtlich: Sie ist das Opfer. Der Generalbundesanwalt hat es uns gesagt: Ihr Handy wurde »möglicherweise abhört«. Die restlichen Abschnorcheleien sind »nicht konkret genug«, um ihnen nachzugehen. Aber Frau Merkel: Sie ist betroffen.

Um ein Problem zu verstehen, müssen wir aber die Sicht der Betroffenen einnehmen.

Stellen Sie sich also vor, Sie sind Kanzlerin. Regierungschefin der größten Volkswirtschaft Europas, einer der bedeutenden in der Welt, und mindestens laut Forbes die mächtigste Frau der Welt. Vor einem Monat ist es ihnen gelungen, den Bundestagswahlkampf – an allen Problemen der Realität vorbei – mit einer reinen Wohlfühlkampagne zu gewinnen und Sie steigen gerade in Koalitionsverhandlungen mit einer arg gerupften SPD ein, der Sie fast alles in den Koalitionsvertrag schreiben können, was sie wollen. Und wenn alles klappt, werden sie die Chefin einer 80-Prozent-Regierung und können zum ersten Mal sogar über Verfassungsänderungen nachdenken, ohne sich mit dieser lästigen Opposition herumschlagen zu müssen. Nur dieser Mindestlohn. Sie verscheuchen diesen Gedanken. Sie sitzen gemütlich beim Frühstück und freuen sich an ihrem Apfelkuchen. Das Telefon klingelt. Ronald ist am Telefon. »Angela, da sind Gerüchte unterwegs: Die NSA hat Dein Handy abgehört.« Sie denken: Das darf doch nicht wahr sein? Was bilden die sich ein, wer sie sind. Ich bin die Kanzlerin. Das gehört sich nicht. Großer Mist, die Spähaffäre war schon fast kleingeredet. Und jetzt das.

Sie schäumen vor Wut. Sie fahren ins Kanzleramt, setzen sich an Ihren Schreibtisch und überlegen: Wie kann ich das aussitzen, ohne das noch mehr Schaden entsteht? Sie grübeln, aber sie finden keine Lösung. Auch Menschen, die bisher die beendet-Theorie von Ronald hingenommen hatten, würden nun wieder hinschauen. Völlig unerwünscht, diese neuerliche Aufmerksamkeit. Aber wenigstens ist die Wahl vorbei.

Es ist Ende Oktober 2013. Am 5. Mai 2013 hatten Guardian und New York Times erstmals von der Sache berichtet, die bisher doch so erfolgreich unter dem Radar geblieben war. Seitdem ging es Schlag auf Schlag. Natürlich hatten die Journalisten sofort verstanden, welche Gefahr die Enthüllungen bedeuten. Das war besonders deutlich geworden, als die Briten David Miranda stundenlang festgehalten hatten – ganz offenbar, um Glenn Greenwald einzuschüchtern. Mitten im Wahlkampf.

Aber für die Bürgerinnen und Bürger war die Bedrohung abstrakt geblieben. Anders als damals bei Fukushima konnte man ja keine Bedrohung sehen, weil das alles nur im »Cyberspace« ablief. Daher war es mit ein paar halbgaren Beschwichtigungen in der Öffentlichkeit getan. Die sogenannte »Netzgemeinde« hatte sich zwar über Ihre Äußerung mit dem »Neuland« totgelacht, aber Sie wissen: Für die ist Politik Neuland. Die würden ihnen noch lange keine Schwierigkeiten machen. Und jetzt das. Hier schlägt ihre Popularität zurück.

Aber – das wissen Sie – wirklich tun können Sie auch nichts.

Die Kontrolle über die eigenen Dienste haben Sie längst verloren – sonst wäre ihnen das mit dem Nationalsozialistischen Untergrund nicht passiert. Aber glücklicherweise waren die in dieser Sache noch nicht ins Kreuzfeuer geraten. Und gerade zum Thema »Internet« kennt sich ja in der Regierung auch niemand wirklich aus. Und irgendwann müssen Sie ja auch wieder in die USA reisen und brauchen irgendwelche außenpolitischen Erfolge, um Ihr Wohlfühlimage aufrecht erhalten zu können. Sollen Sie sich da wirklich mit Barack anlegen? Der kann doch auch nichts machen. Die im jahrzehntelangen kalten Krieg gewachsenen Strukturen waren einfach zu mächtig, und seit 2001 hatte man ja auch ein gutes Argument gefunden, weiter in den überkommenen Denkmustern bleiben zu können.

In welcher Zwangslage muss diese Frau stecken? Persönlich in aller Öffentlichkeit gedemütigt und gleichzeitig völlig unfähig, den Strukturen etwas entgegenzusetzen, die eine noch schlimmere Überwachungsinfrastruktur aufgebaut hatten, als das Regime, dass sie noch 25 Jahre zuvor hatte überwinden können. »Demokratischer Aufbruch«. Was für ein Wort! Und was war jetzt davon geblieben?

Zeitsprung.

Bald jährt sich zum ersten Mal diese unsägliche Veröffentlichung im Guardian. Inzwischen haben Sie das mit dem Handy weitgehend schadlos aus der Welt geschafft. Ein bisschen gespielte Verstimmung war notwendig geworden, aber beim letzten Besuch in Washington konnten Sie die Wohlfühlatmosphäre wieder herstellen. Inzwischen war auch für die Öffentlichkeit unübersehbar geworden, dass Obama – wie Sie selbst – dem Unwesen der Geheimdienste völlig machtlos gegenüberstand. Denn überall dort, wo er Möglichkeiten hatte, hatte er sich stets für persönliche Freiheitsrechte eingesetzt: Bei der Legalisierung von Cannabis und wenn es zum Beispiel um die Rechte Homosexueller ging. Nur seine NSA-Reform war mehr ein Reförmchen, das keines der realen Probleme auch nur im Entferntesten anging.

Und jetzt wird der Druck der Öffentlichkeit immer größer, auf juristischem Weg gegen diese Geheimdienste vorzugehen. Und was macht dieser Range? Er sucht sich ausgerechnet Ihr Handy aus, um daran einen Anfangsverdacht festzumachen. Er setzt nicht an irgendeiner der US-amerikanischen Installationen an, wo tatsächlich illegal massenhaft die Daten der Bürger »ausgeleitet« werden, sondern ausgerechnet in Ihrer Handtasche. Unfassbar. Sie sind zwar sicher: Das wird im Sande verlaufen, denn – das war schon im April klar geworden – die USA würden doch nicht so blöd sein, tatsächlich freiwillig und ohne erheblichen politischen Druck irgendwelche brisanten Informationen herauszugeben. Und Druck würden Sie ganz bestimmt nicht aufbauen – genausowenig, wie Sie es das letzte Jahr über getan hatten. Aber es würde wieder Arbeit werden, die neuerliche, unerwünschte Aufmerksamkeit loszuwerden.

Soweit die Sicht der Betroffenen.

Ich hoffe, Ihnen ist klar geworden, in welcher Zwickmühle die Kanzlerin hier steckt. Sie wird gewählt, weil sie die Probleme ruhen lässt, Wohlfühlstimmung aufkommen lässt. Und hier würde nun genau das Gegenteil gebraucht: Ein wirklicher demokratischer Aufbruch. Wirkungsvolles Abschütteln jahrzehntelang gewachsener Strukturen und Denkmuster des kalten Krieges. So wie vor 25 Jahren. Das wird diese Kanzlerin nicht schaffen. Befreien wir sie von ihrer Bürde: Zeigen wir ihr, welche Möglichkeiten es gibt, sich zur Wehr zu setzen. Und zeigen wir ihr, dass wir sie nicht weniger lieb haben, wenn sie sich für unsere Persönlichkeitsrechte und damit letztendlich auch für den Fortbestand einer Demokratie einsetzt, in der freie Menschen unbeobachtet eine freie Wahl treffen können. In China protestieren die Menschen und kämpfen – unter Einsatz ihres Lebens – für Demokratie und Meinungsfreiheit. Wir hier haben sie – noch. Lasst sie nicht leichtfertig im Datenstaubsauger wildgewordener Geheimdienste verschwinden.

 

Titelbild: (CC-BY-SA) Lucie Provencher

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