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Politik braucht konkrete Ziele

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– die sie auch wirklich erreichen will – Interview mit MdL Oliver Bayer

OLIVER BAYER AUF DER FEENCON - FOTO PRIVAT

Oliver Bayer ist seit 2012 Abgeordnete der PIRATEN im Landtag NRW. Er engagiert sich leidenschaftlich für Fahrscheinlosen ÖPNV, Open Access, Semesterticket, Sozialticket, Fluglärm, Autonomes Fahren, sowie Open Data.

 

Christiane vom Schloß:

2012 bist du vom Listenplatz 19 in den Landtag gewählt worden. Wahrscheinlich war das eine Zitterpartie – was ging dir durch den Kopf, als dir endgültig klar wurde, dass du tatsächlich als Abgeordneter der PIRATEN im Landtag sitzen würdest?

Oliver Bayer:

Auf der Wahlparty im zakk nahm ich ausschließlich vom koreanischen Fernsehen eine persönliche Gratulation entgegen. Dass es so viele Ausgleichsmandate geben würde, war am Wahlabend noch nicht klar. Am Folgetag ging mir dann vorwiegend Organisatorisches durch den Kopf: Beruf, Presse, Fraktion – alles habe ich mit einem typischen Umzugs-Gefühl erledigt; das war guttuender Stress.
Für 2017 wünsche ich mir ein Yeah-Geschafft-Gefühl für uns alle. Dafür verzichte ich meinetwegen auch auf das koreanische Fernsehen.

Christiane vom Schloß:

Seitdem sind über drei Jahre vergangen. Mittlerweile hast du so viele Funktionen, dass ich sie gar nicht mehr aufzählen kann. Wie würdest du deine persönliche Entwicklung in den letzten zwei Jahren beschreiben?

Oliver Bayer:

Ich habe mir meine These bestätigt, dass man viel, aber nicht alles machen kann – auch nicht binnen 5 Jahren. Das ist eine Erkenntnis, die ich bei vielen Politikern vermisse. Ich habe viel experimentiert, aber auch einige Funktionen und Aufgaben wieder abgegeben. Ich mag das fachliche Potpourri, in das ich mich stürze genauso wie das breite Spektrum politischen Wirkens. Ich bin allerdings bestürzt und enttäuscht, wie ausweglos starr manche politischen Karrieren sind und wie sich das auf das politische Handeln auswirkt. Dieses gängige Klischee über Politiker, es stimmt.
Damit ich mich nicht dahin entwickle, muss ich alle paar Wochen den Trott stoppen und mich selbst daran erinnern, dass ich die Legislaturperiode für noch mehr Neues, auch für Experimente, nutze. Dadurch habe ich bisher auf allen Ebenen sehr viel gelernt. Persönliche Möglichkeiten und Grenzen kann ich jetzt viel besser einschätzen.

Christiane vom Schloß:

Hast du je Zweifel gehabt, ob eine deiner politischen Entscheidungen richtig war?
Oliver Bayer:

Nein. Im Rückblick würde ich mir aber für mich selbst und auch für meine Fraktion wünschen, mehr Entscheidungen und schnellere Entscheidungen getroffen zu haben. Wenn ich etwas bewegen will, muss ich Entscheidungen treffen – manchmal auch unangenehme. Für’s Aufschieben und Offenhalten ist die Legislaturperiode zu kurz. „Wer nichts tut, macht nichts falsch“ gilt nicht für Politiker. (Auch wenn diese Ansicht bis ins Kanzleramt hinein verbreitet ist.)

Christiane vom Schloß:

Welche Initiativen waren bisher deine größten Erfolge?

Oliver Bayer:

Ich mag Oppositionsarbeit, die durch gezieltes oder ausdauerndes Bohren Probleme aufdeckt und die Landespolitik in unsere Richtung zieht. Ich mag es, in meinen Ausschüssen Positionen zu vertreten, die ohne uns im Landtag ohne Stimme wären. So kommen wir in den Bereichen Open Access, Fahrscheinloser ÖPNV, Semesterticket, Sozialticket, Fluglärm, Autonomes Fahren, Open Data etc. sukzessive weiter.

Doch natürlich ist es Freude für meine Seele, etwas Besonderes zu erreichen und die Einrichtung der „Enquetekommission zur Finanzierung, Innovation und Nutzung des Öffentlichen Personenverkehrs“ ist genau das.

Christiane vom Schloß:

Klimaschutz geht uns alle an. Welche Maßnahmen sollten große Bundesländer wie NRW ergreifen, um ihren Beitrag zu leisten?

Oliver Bayer:

Politik braucht konkrete Ziele, die sie auch wirklich erreichen will. Gerade wenn es um langfristige Ziele geht, ist jedoch die Politik in NRW nicht bereit vom „so wie immer“ abzuweichen, sobald sie auf das erste Hindernis trifft. So ist es auch beim Klimaschutz.
Wir brauchen eine intelligente und konsequente Verkehrswende mit Bus und Bahn im Mittelpunkt, eine dezentrale Energieversorgung und den Ausstieg aus der Braunkohle in NRW. Vor allem aber brauchen wir den politischen Willen, ressortübergreifend Entscheidungen an dem Ziel Klimaschutz auszurichten – auch bei kleinen Dingen. Meine Kollegen und ich stoßen überall auf vermeintlich unantastbare Steuerinstrumente, die gegeneinander laufen – und auf dicke Mauern bei allen Fraktionen.

Christiane vom Schloß:

Fahrscheinloser Nahverkehr- für viele klingt das eher nach einer utopischen, piratigen Vision. Welche Schritte habt ihr unternommen, um diese Vision Realität werden zu lassen?

Oliver Bayer:

Die Alternative wäre die dystopische Vision, die Verkehrspolitik des 20. Jahrhunderts fortzuführen, die uns in ein autozentriertes Verkehrschaos stürzt, bei dem die Instandhaltung der Infrastruktur unfinanzierbar ist.
Wir sind hartnäckig und haben den Fahrscheinlosen ÖPNV zusammen mit unseren Vorstellungen von Verkehrspolitik in die Köpfe von Politikern und Lobbyisten gebracht: in Ausschüssen, Diskussionen, Anfragen, Anträgen und Anhörungen sowie auf zahlreichen Veranstaltungen in NRW. Die u. a. Bürgerticket genannten Konzepte – drei Jahrzehnte durch ökologische Argumentation geprägt – erhielten durch uns eine ganz neue Basis und konnten ihr Image modernisieren. Ökologisches Handeln ist nun nicht mehr der einzige Grund, fahrscheinlosen ÖPNV zu propagieren. Auch nicht-piratige Initiativen erleben einen Schub und deren lokales Engagement nutzt uns wiederum bei der Argumentation im Landtag. Trotz Initiativen und Enquete-Kommission ist es noch ein langer Weg, die anderen Fraktionen zu überzeugen. Parlamentarische Initiativen zum Thema ÖPNV kommen fast ausschließlich von uns. Ich sag mal: Wir haben da im Landtag NRW noch ein Alleinstellungsmerkmal.

Christiane vom Schloß:

Angenommen wir schreiben das Jahr 2040. Wie sähe für dich die ideale Stadt der Zukunft aus?

Oliver Bayer:

In 25 Jahren passiert viel, doch Mobilfunk, Internet oder der Siegeszug des Finanzsektors haben unsere Städte augenscheinlich kaum verändert. Die Digitale Revolution im Raum beginnt jedoch gerade erst. Bis 2040 werden sich unsere Städte völlig verändern – sie sind dran, davon bin ich überzeugt.

Gebäude, Brücken und Tunnel bleiben dort stehen, wo sie sind. Unsere Städte definieren sich allerdings zu einem großen Teil über die Freiflächen und Verkehrsflächen. Hier stehen große Veränderungen an. Ich möchte ein realistisches, gleichwohl positives Bild des Jahres 2040 zeichnen, für das ich als Politiker arbeite:

Autonome Fahrzeuge haben dafür gesorgt, dass keine Autos mehr in den Anwohnerstraßen herumstehen. Einige Autos fahren selbstständig in das nächste Parkhaus, die meisten jedoch sind CarSharing-Autos, die gleich zum nächsten Fahrgast fahren und diese/n dann oft zur Straßenbahn oder S-Bahn bringen. Autos ergänzen damit den öffentlichen Nahverkehr, der in den Städten einfache sowie luxuriöse Ansprüche an die Mobilität erfüllt.

Die ehemaligen Parkstreifen wurden zu Grün- oder Erholungsflächen umgestaltet, viele Ampeln, Kreuzungen und Fahrbahnen vor allem mehrspuriger Straßen zurückgebaut. Der neue Freiraum erhöht die Lebensqualität und hat auch dazu geführt, dass viel mehr Menschen zu Fuß, mit dem Fahrrad oder Kleinstfahrzeugen unterwegs sind.
Die neue Verbindung zwischen CarSharing, Bus und Bahn funktioniert ohne Fahrplan und ohne eigene Wegkenntnis: 2015 kannten die Menschen von ihrer Stadt vor allem bestimmte Korridore, die sie – z. B. auf dem gewohnten Weg zur Arbeit – nutzten. 2040 kennen sie die ganze Stadt und sind ganz flexibel immer dort, wo sie gerne sein möchten. Die vernetzten Räume der Stadt werden effektiver genutzt und veränderten sich durch die stark unterschiedliche Nutzung auch außerhalb von „Szene-Locations“. Jedes Stadtviertel profitiert davon. „Beste Lagen“ verloren an Bedeutung. Differenzierung ohne Gentrifizierung: Es ist nicht mehr notwendig dort zu wohnen, wo man halbwegs seinesgleichen findet, denn man kann sich leicht in wechselnden Gruppen überall zusammenfinden.

Alle diese Veränderungen geschahen sehr schnell, als mit neuen Technologien neue Mobilitätsanbieter den Markt aufrollten und die Politik die Weichen Richtung Verkehrswende und Lebensqualität stellte.
Die Stadt der Zukunft hat das Internet auf Lebensräume übertragen und endlich das Zeitalter der autogerechten Stadt überwunden.

Christiane vom Schloß:

Welche drei politischen Ziele würdest du am liebsten sofort umsetzen?

Oliver Bayer:

1. Die Verkehrswende mit massivem Ausbau von Radwegen, Bus und Bahn sowie Fahrscheinlosem ÖPNV statt Pendlerpauschale
2. Das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) als gesamteuropäisches Reformprojekt und als solide Basis für die Währungsunion
3. Durchgängig Freies Wissen, Freie Daten und offene Standards überall dort, wo Steuergelder eingesetzt werden – von ÖPNV-Daten bis zu wissenschaftlichen Publikationen.

Christiane vom Schloß:

Die stetig sinkende Wahlbeteiligung, wie zuletzt in Bremen, zeigt vielleicht auch, dass Bürger mit dieser Form der sporadischen Beteiligung an politischer Willensbildung unzufrieden sind. Mit welchen innovativen Formen der politischen Mitbestimmung könnten wir Piraten Bürgerinnen und Bürger in den nächsten Jahren überzeugen?

MDL OLIVER BAYER - PIRATEN NRW - WAHLKREISBUERO - FOTO - be-him

Oliver Bayer:

Bisher liegt unser Schwerpunkt darin, zu vermitteln, dass „innovative Formen“ unsere Demokratie verbessern können. Dabei sind die erprobten aktuellen Formen der Demokratie durch die Digitale Revolution langfristig bedroht, wenn globale Konzerne staatenunabhängig Legislative, Exekutive und Judikative aus einer Hand anbieten und allenfalls eine freiwillige Selbsterklärung a la „Don’t be evil“ abgeben.
Diese Zukunft müssen wir zu einer demokratischen Variante hin verändern. Dafür müssen wir demokratische Experimente innerhalb und außerhalb der Partei zulassen und forcieren.

Wichtig ist, dass mit innovativen Formen der politischen Mitbestimmung nicht nur verhindert, sondern gestaltet wird. Ich kann mir gut vorstellen, dass das Erarbeiten und Abstimmen großer Gesamtpakete besser funktioniert, als bloß einzelne bereits ausgearbeitete Maßnahmen mit „Ja“/„Nein“ abzustimmen.

Bei heutigen Bürgerentscheiden kann ein „Nein“ vieles bedeuten, markiert aber meist das Ende der Planungen und nicht den Beginn der Mitbestimmung. Wurde eine Stadtbahntrasse abgelehnt, fließt das „gesparte“ Geld eben nicht in Kitas oder Schulen, wird keine vergessene Haltestelle berücksichtigt oder die Marketingfirma für den blöden Slogan abgestraft.

Derzeit gibt die Politik mit Bürgerentscheiden Verantwortung ab, aber die Bürgerinnen und Bürger erhalten die Verantwortung nicht, da sie nur nach dem „friss oder stirb“-Prinzip abstimmen. Es hat dann also niemand mehr die Verantwortung.
Wenn nach einer umfassenden Auseinandersetzung – mit den Bürgerinnen und Bürgern im Mittelpunkt – eine Abstimmung für mehrere Varianten eines Gesamtkonzeptes (inklusive z. B. wohin das „eingesparte“ Geld alternativ fließt) steht, dann wären die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr nur der Sündenbock für Politiker, die nur ein Alibi für ihre eigene Entscheidung brauchen; dann könnten die Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Stimme auch echte Verantwortung übernehmen.

Christiane vom Schloß:

Fantasy- und Liverollenspiele sind dein Hobby. Bleibt dir dafür noch Zeit?

Oliver Bayer:

Ich mag vor allem moderne Fantasy, bei der sich hinter Geheimnissen und Rätseln elegante Erklärungen verbergen – Welten, die glaubwürdig wirken. Die politische Realität kann da leider nicht mithalten.
Die Landtags-Politik ist dennoch faszinierend und kreativitäts-herausfordernd genug, damit ich es verschmerzen kann, nur noch sehr wenig Zeit für Fantasyrollenspiele zu haben. Für meine Gruppen tut es mir leid. Ich bin derzeit ein unzuverlässiger Mitspieler.
Ich helfe noch auf der FeenCon in Bonn, die ich mal mit organisierte und leite jährlich ein „Pen&Paper-Mehrgruppenabenteuer“ auf der SparrenCon in Bielefeld. Soviel Weltenspaß muss sein.

Christiane vom Schloß:

Falls du eine zweite Kandidatur in Erwägung ziehst, was hast du dir für die zweite Amtszeit vorgenommen?

Oliver Bayer:

Ich werde erneut kandidieren – für die Piratenpartei. Gerne möchte ich anschließend neue Aufgaben übernehmen, aber dem Verkehrsausschuss treu bleiben. Gerade im Verkehrsbereich müssen wir Politiker dazu übergehen, länger als eine Legislaturperiode zu denken. Ich werde jedoch von Anfang an planen, welche Baustellen ich wann angehe.
Bezüglich der Fraktion gilt es, aus Fehlern zu lernen, und sich gleich zu Beginn besser einzurichten. Die Umzugskartons will ich schnell auspacken, damit so wenige dauerhafte Provisorien wie möglich entstehen.

Christiane vom Schloß:

2017 ist wieder Landtagswahl. Woran müssen wir Piraten arbeiten, damit engagierte Piraten wie du eine Chance auf Wiederwahl haben?

Oliver Bayer:

Wir müssen immer wieder neu entdecken, wie wichtig PIRATEN für die Zukunft unserer Gesellschaft sind und unsere Anliegen auf allen Ebenen mit viel Ausdauer skandieren.
Damit wir alle eine Chance auf den Wiedereinzug haben, müssen wir die Engagierten immer unterstützen, auch wenn sie nur zu 80% das tun, was wir auch täten, wenn wir denn die Zeit dazu hätten.

Das Motto „Ich meckere, also handle ich“ gibt es nicht nur bei den PIRATEN, aber eine Partei, die gestalten will, braucht ein neues: „Ich handle, meckern sollen andere“.
Wir werden dennoch nicht unser Wesen ändern können und eine sehr deutsche Partei bleiben. Wir erfüllen da alle Klischees: Wir haben die Pingeligkeit, Gründlichkeit und den Formalfoo auf die Spitze getrieben. Das passt zu uns und ist auch eine Stärke. Denn wir mögen keine vermeintlichen Grauzonen oder Regellücken. Leistungsschutzrecht, Softwarepatente und Vorratsdatenspeicherung stören uns auch dann, wenn andere noch denken, es beträfe sie nicht.

Wenn es jeder/m einzelnen von uns gelingt, diese unsere Stärken auf die große inhaltliche Auseinandersetzung zu lenken – nicht auf das persönliche Klein-klein – dann werden wir unsere Kreativität wieder entfachen und eine weitere Stärke mobilisieren können: Dass all unsere „Inhalte“ ineinandergreifen und ein überraschend konsistentes und stabiles Konzept von einer guten Zukunft ergeben. Wir sind weder die Partei ohne Inhalte, noch eine der Parteien mit einem Bottich voll unzusammenhängender Meinungsschnipsel.

Da die Zeit bis 2017 knapp ist, werden wir einzelne PIRATEN brauchen, die mit ihrer Person konkrete Pläne verkörpern und voranbringen. Wir dürfen nicht auf einen Masterplan für den Wahlkampf warten, müssen aber wissen, wer was macht: Verantwortung, Zuständigkeit, Kompetenz und Vertrauen läuft über Personen.

Christiane vom Schloß:

Vielen Dank, Oliver, für dieses interessante Interview.

 

CHRISTIANE-VOM-SCHLOSS-FOTO-FLASCHENPOSTAutorin: Christiane vom Schloß


Seit April 2012 Mitglied der Piratenpartei im Landesverband Schleswig-Holstein
und ab 2013 bei den Sozialpiraten engagiert.

Redakteurin der Flaschenpost seit Juli 2014.

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