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Gastbeitrag von Sven Bechen

Wer Migration begrenzt, verschärft die Krise

Deutschland steht vor großen demografischen Herausforderungen. Dazu zählen eine alternde Bevölkerung, ein zunehmender Fachkräftemangel und die Frage, wie der Sozialstaat langfristig finanziert werden kann. Vor diesem Hintergrund ist Migration nicht nur eine humanitäre Verpflichtung, sondern auch eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Chance.

Ein kürzlich veröffentlichter Artikel von Nasrin Amirsedghi auf der Homepage der Piratenpartei Deutschland fordert eine strengere Steuerung der Migration und warnt vor sogenannter „falscher Migration“. Der Beitrag greift bekannte Narrative auf, die sich vor allem auf kurzfristige Kosten und Herausforderungen konzentrieren und mögliche langfristige Vorteile kaum berücksichtigen. Dieser Gastbeitrag setzt sich argumentativ mit dem Originalartikel auseinander und stellt dessen Aussagen wissenschaftlichen Studien und offiziellen Berichten gegenüber.

Empirische Daten sprechen für eine migrationsfreundliche Politik. Migration kann Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie stärken, wenn sie durch gezielte Investitionen in Integration begleitet wird. Studien zeigen, dass eine jährliche Netto-Zuwanderung von etwa 200.000 Personen den Staatshaushalt langfristig um bis zu 100 Milliarden Euro pro Jahr entlasten kann. Grund dafür sind zusätzliche Steuereinnahmen und Sozialbeiträge, die den demografischen Wandel abfedern.

Der Originalartikel warnt vor „Blauäugigkeit“ und fordert eine strenge Auswahl von Migrantinnen und Migranten, um „Unordnung“ zu vermeiden. Diese Sichtweise ist sehr restriktiv. Sie blendet aus, dass offenere Migrationspolitiken langfristig wirtschaftliche Vorteile bringen. Empirische Studien zeigen, dass Zuwanderung Innovation und wirtschaftliches Wachstum fördert, da sie vielfältige Qualifikationen in den Arbeitsmarkt einbringt. OECD-Daten bestätigen zudem Deutschlands Integrationserfolge: Seit 2015 ist die Erwerbstätigenquote von Eingewanderten auf über 70 Prozent gestiegen und liegt damit höher als in vielen anderen EU-Ländern.

Strenge Auswahlmodelle, wie sie etwa in Kanada oder Australien angewendet werden und von Frau Amirsedghi als Vorbild genannt werden, können die Zuwanderung verlangsamen. Dies führt häufig zu Personalmangel in Bereichen wie Pflege oder Bau. Gerade in diesen Sektoren besteht in Deutschland ein besonders hoher Bedarf an Arbeitskräften. Stattdessen sollte Deutschland auf hybride Modelle setzen, die humanitäre Verantwortung mit wirtschaftlicher Bedarfsorientierung verbinden. So kann der jährliche Zuwanderungsbedarf von rund 400.000 Personen gedeckt und das Arbeitskräfteangebot stabilisiert werden.

Der Originalartikel stellt den Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften hohen Sozialkosten durch „unqualifizierte“ Migranten gegenüber. Diese Gegenüberstellung ist zu stark vereinfacht. Ausländische Beschäftigte leisten jährlich einen erheblichen wirtschaftlichen Beitrag und mildern den Fachkräftemangel. Bereits 2012 entlasteten Migrantinnen und Migranten den deutschen Sozialstaat netto um 22 Milliarden Euro. Aktuelle Analysen bestätigen weiterhin positive Effekte, da anfängliche Integrationskosten durch spätere Steuereinnahmen ausgeglichen werden. Langfristig entlastet jede zuwandernde Person den Staatshaushalt durch Beiträge zu den Sozialsystemen um mehrere tausend Euro.

In vielen Branchen sind Migranten unverzichtbar. Im Baugewerbe haben rund 67 Prozent der Beschäftigten einen Migrationshintergrund. Ohne ihre Arbeit wäre der wirtschaftliche Wohlstand in diesem Bereich nicht aufrechtzuerhalten. Die Annahme dauerhaft hoher Kosten durch Migration übersieht, dass viele Zuwandernde in Mangelberufen tätig sind.

Die Kritik an der Migrationspolitik seit 2015 verweist häufig auf Traumatisierung und Bildungsdefizite. Gleichzeitig zeigen offizielle Daten deutliche Integrationserfolge. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verzeichnet seit 2005 über 3,2 Millionen Teilnehmende an Integrationskursen. Im Jahr 2024 wurde mit 363.466 neuen Teilnehmenden ein Höchststand erreicht. OECD-Berichte bestätigen zudem steigende Beschäftigungsquoten von Migrantinnen und Migranten. Dabei erhöhen Integrationskurse nachweislich die Chancen auf eine Beschäftigung, auch für Geflüchtete aus Kriegsregionen.

Kritik an niedrigen Erfolgsquoten in Sprachkursen greift ebenfalls zu kurz. BAMF-Daten zeigen steigende Abschlussquoten, insbesondere auf höheren Sprachniveaus wie B1. Die Investitionen in Sprach- und Integrationskurse, über eine Milliarde Euro im Jahr 2025, sind wirtschaftlich sinnvoll. Sie führen langfristig zu qualifizierter Beschäftigung, höheren Steuereinnahmen und einer Entlastung des Sozialstaates. Viele Migrantinnen und Migranten arbeiten bereits während des Spracherwerbs, was zusätzlich zur wirtschaftlichen Entwicklung beiträgt.

Zwar werden niedrige Erwerbsquoten einzelner Gruppen hervorgehoben, insgesamt zeigen Statistiken jedoch Rekordstände. Die Erwerbsbeteiligung von Geflüchteten steigt kontinuierlich. Studien widerlegen zudem die Annahme, Migration sei ein finanzielles „Minusgeschäft“. Stattdessen entstehen Netto-Nutzen in Milliardenhöhe durch Steuereinnahmen und Wertschöpfung.

Vorwürfe eines „moralischen Überschwangs“ tragen wenig zu einer sachlichen Debatte bei. Nüchterne Analysen zeigen, dass Migration den sozialen Zusammenhalt stärken und soziale Ungleichheiten verringern kann. Die langfristige Entlastung des Staates durch Migration ist empirisch belegt. Offene und faktenbasierte Diskussionen fördern Integration, anstatt vermeintlichen „Realismus“ gegen angebliche „Romantik“ auszuspielen.

Ein enger Fokus auf qualifizierte Zuwanderung aus bestimmten Regionen, etwa Osteuropa oder der Ukraine, greift zu kurz. Zwar zeigen ukrainische Geflüchtete gute Integrations- und Arbeitsmarktergebnisse, doch auch globale Migration fördert Innovation und wirtschaftliche Dynamik. Zudem besteht in vielen niedrig entlohnten Bereichen ein hoher Bedarf an Arbeitskräften, der durch zu restriktive Auswahlmechanismen nicht gedeckt werden kann.

Abschottung ist keine Strategie

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Artikel von Nasrin Amirsedghi Migration primär als Risiko darstellt und damit zentrale empirische Erkenntnisse ignoriert. Die wiederholte Fixierung auf Restriktion, Auswahl und vermeintliche Fehlanreize verkennt, dass Deutschland strukturell auf Zuwanderung angewiesen ist. Die vorliegenden Daten zeigen eindeutig: Migration entlastet den Sozialstaat, stabilisiert den Arbeitsmarkt und trägt messbar zur wirtschaftlichen Wertschöpfung bei. Eine Politik, die Migration vor allem begrenzen will, verschärft den Fachkräftemangel, schwächt die Integrationsdynamik und gefährdet langfristig die finanzielle Basis des Gemeinwesens.

Migration ist keine romantisierte Wohltat, um die eigenen Gefühle zu bestärken, sondern eine humanitäre und wirtschaftliche Verpflichtung. Wer unter diesen Bedingungen weiterhin auf Abschottung setzt, argumentiert nicht realistisch, sondern gegen die belegte Realität.

Sven Bechen ist Student der Politikwissenschaft im Schwerpunkt Internationale Beziehungen und ist freiberuflich im Journalismus tätig. Bis 2024 war Vorsitzender der PIRATEN NRW, trat zur Europawahl für die Bundesliste der Piratenpartei an und engagierte sich vor allem in der Bildungs-, Umwelt-, Asyl- und Migrationspolitik.

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